LET THEM FALL!

Als im Frühjahr 2014 Demonstrierende in vielen Teilen der Ukraine Statuen des Begründers der Sowjet-Diktatur, Waldimir Lenin, zu Fall brachten, war der Jubel in Amerika und Europa groß. Den Ukrainerinnen und Ukrainern war es gelungen, ihren Diktator und seine Sowjetnostalgie aus dem Land zu scheuchen. Außer ein paar DDR-Nostalgikern und Putin-Liebhabern störte sich hierzulande niemand daran, dass die Statuen eines Massenmörders fielen. Aber woher kommt dann die Empörung über den Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol oder den Vorschlag, die Mohrenstraße in Berlin umzubenennen?

Zweifelsohne handelt es sich beim Fall Edward Colston nach deutschem, wohl aber auch nach britischem Recht, um Sachbeschädigung. Die Entscheidung, welchen Namen eine Straße oder ein Platz trägt und ob ein Denkmal erhalten bleibt oder abgerissen wird, trifft in einer Demokratie nicht eine sich selbst ermächtigende Masse, sondern die Bürgerinnen und Bürger bzw. ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter. Dies kann die Empörung in den sozialen Medien sowie vieler Kommentatoren in den Printmedien jedoch nicht vollständig erklären. Nicht nur das „Verfahren“ stieß (zurecht) auf scharfe Kritik, auch der Abriss als solcher. Zwei Argumente werden immer wieder angeführt. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass historische Figuren jawohl nur nach den Maßstäben ihrer Zeit beurteilt werden könnten (eine entsprechende Beurteilung findet daran anschließend meistens nicht statt) und zum anderen wird vor einer „Auslöschung“ der eigenen Geschichte gewarnt.

Sachurteil oder Werturteil?

Beginnen wir mit dem ersten Argument. Wer im Geschichtsunterricht aufgepasst hat, wird sich gewiss an den Unterschied zwischen Sach- und Werturteil erinnern. Ein Sachurteil beurteilt eine historische Persönlichkeit, ein Ereignis oder eine politische oder gesellschaftliche Bewegung nach den Maßstäben, das heißt den Wertevorstellungen ihrer Zeit. Hingegen beurteilt ein Werturteil selbiges nach unseren derzeitigen Maßstäben.

Schon das Sachurteil fällt im Hinblick auf viele historische Persönlichkeiten jedoch alles andere als positiv aus. Nehmen wir den Sklavenhändler Edward Colston. Zwar waren Sklaverei und Kolonialismus im 18. Jahrhundert üblich, dennoch wurden sie bereits von vielen Zeitgenossen, wie z.B. Alexander von Humboldt entschieden verurteilt. In seinem Reisetagebuch schrieb er, dass „je größer die Kolonien sind, je konsequenter die europäischen Regierungen in ihrer politischen Bosheit sind, umso stärker muss sich die Unmoral der Kolonien vermehren.“[1] Wem es ernst ist mit einer Beurteilung historischer Persönlichkeiten nach den Maßstäben ihrer Zeit, kann diese unterschiedliche Beurteilung der Zeitgenossen nicht ignorieren.

Mit der unantastbaren Würde des Menschen als Maßstab der heutigen Zeit, fällt ein Werturteil über Edward Colston erst recht vernichtend aus. Aber warum sollten wir diesen Maßstab überhaupt anlegen? Welches Recht haben wir längst verstorbene Personen nach unseren Wertevorstellungen zu beurteilen?

Diese Frage berührt im Kern folgende viel weitergehende Frage: Gibt es auf ethische Fragen universelle Antworten, d.h. Antworten, die für alle Menschen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund und der Zeit, in der sie lebten, verbindlich sind? Wer diese Frage mit „Ja“ beantwortet, kann nicht umherkommen auch historische Persönlichkeiten nach diesem universellen ethischen Maßstab zu beurteilen. Nur, wer die Frage verneint, kann sich darauf berufen, historische Persönlichkeiten lediglich nach den Standards ihrer Zeit und ihrer Kultur beurteilen zu müssen.

Letztere Strömung bezeichnet man in der Ethik als Kulturrelativismus. Dieser wird wie folgt begründet: Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen haben unterschiedliche Wertevorstellungen, beantworten also dieselbe ethische Frage unterschiedlich. So ist die Beschneidung von Frauen in vielen afrikanischen Gesellschaften immer noch verankert, während sie im Westen als Verstümmelung betrachtet und unter Strafe gestellt ist (§ 226a StGB). Ein Kulturrelativist würde aus diesen unterschiedlichen Moralvorstellungen nun schlussfolgern, dass keine der beiden Ansichten objektiv richtig oder falsch sei und es sich somit lediglich um eine Geschmacksfrage handele. Das Problem an dieser Argumentation ist, dass sich die Prämisse (Gesellschaft A befürwortet weibliche Beschneidung, Gesellschaft B lehnt sie ab) auf unterschiedliche Meinungen bezieht, während die daraus gezogene Schlussfolgerung sich auf die Wahrheit (Beschneidung ist weder objektiv richtig noch objektiv falsch) bezieht. Die bloße Existenz unterschiedlicher Meinungen lässt aber nur die objektive Feststellung zu, dass eine Frage umstritten ist, nicht was objektiv richtig oder falsch ist. Diese mangelnde Logik in der Argumentation wird noch deutlicher, wenn man die Frage ändert. Nehmen wir an, Gesellschaft A glaubt, die Erde sei eine Scheibe, während Gesellschaft B glaubt, sie sei eine Kugel. Sind dann beide Ansichten, allein deshalb, weil sie überhaupt vertreten werden, weder objektiv richtig noch objektiv falsch? Schon aufgrund dieses Logikfehlers ist der Kulturrelativismus abzulehnen.

Bejaht man also dementsprechend die oben aufgeworfene Frage, ob es universelle Antworten auf ethische Fragen gibt, bleibt noch die Frage, wie diese universellen Antworten denn zu finden sind. Diese Frage kann hier allerdings nicht beantwortet werden, da dies den Rahmen des Beitrags sprengen würde. Die meisten Demokratinnen und Demokraten werden diese Frage mit einem Verweis auf die unantastbare Würde des Menschen und die Menschenrechte beantworten, was auch ich teile. Wendet man diesen Maßstab bei der Benennung von Straßen und Plätzen sowie dem Erhalt oder Nichterhalt von Denkmälern an, muss man nicht verlangen, dass die in Frage stehenden Personen sich keine einzige Verfehlung geleistet hat und in jederlei Hinsicht perfekt ist. Kein Mensch ist perfekt. Doch wer Sklavenhandel als bloße „Verfehlung“ abstempelt, hat größere Probleme als die Entfernung einer Statue.

Zwischen Glorifizierung und Geschichtsvergessenheit

Damit kommen wir zum zweiten Argument, nämlich der vermeintlich drohenden „Auslöschung“ der eigenen Geschichte. Richtig ist, dass auch Sklavenhändler, Kolonialherren, Kriegstreiber und Kriegsverbrecher Teil der europäischen und deutschen Geschichte sind. Dass es wichtig ist, daran zu erinnern und sich damit kritisch auseinanderzusetzen, zeigen auch die Wahlergebnisse der AfD. Eine Statue sowie auch die Verleihung eines Straßennamens ist jedoch nicht geeignet, um eine kritische Auseinandersetzung mit einer Person zu fördern. Sie ist vielmehr ein Zeichen von Würdigung und Wertschätzung, das viele nicht verdienen. Deshalb muss auf andere Weise sichergestellt werden, dass die Entfernung von Statuen und Umbenennung von Straßen und Plätzen nicht zum Vergessen führt. Weder die unreflektierte Glorifizierung der eigenen Geschichte noch Geschichtsvergessenheit kann die Lösung sein.

Statt Straßen und Plätzen belanglose Namen wie „Waldstraße“ oder „Wiesenstraße“ zu geben, kann man an diejenigen erinnern, die vom ehemaligen Namenspatron unterdrückt wurden oder sich seinen Verbrechen in den Weg gestellt haben. Damit bleibt die Erinnerung auch an diese Kapitel der Geschichte lebhaft, ohne dass wir Verbrecher glorifizieren. Die Statue von Edward Colston könnte demnach durch eine Gedenkstätte ersetzt werden, die den Opfern des transatlantischen Sklavenhandels gewidmet ist.

Dieser Vorschlag wird wahrscheinlich viele, die mit jenem Argument vorpreschen, nicht zufrieden stellen. Sie werden auf die Verdienste der in Frage stehenden Person für die Stadt oder das „Vaterland“ verweisen und dass es diese zu würdigen gelte. Damit entlarven sie sich jedoch selbst. Denn den meisten, die vor einer „Auslöschung“ der eigenen Geschichte warnen, ging es nie darum, das Geschichtsbewusstsein zu erhalten, sondern nur darum, eine bestimmte Interpretation der Geschichte, die Rassismus und Kolonialismus entweder ausblendet oder glorifiziert zu bewahren. Dafür ist in einer freiheitlichen Gesellschaft kein Platz. Demokratinnen und Demokraten sollten deshalb nicht davor zurückschrecken, sich kritisch mit Denkmälern, Straßen- und Platznamen auseinanderzusetzen. Es geht nicht darum, Geschichte verschwinden zu lassen, sondern sie besser zu verstehen.

 

[1] https://humboldt-heute.de/de/geschichten/zitate.

 

Nemir Ali 24 Jahre alt und studiert Rechtswissenschaft in Osnabrück.