Sonderausgabe: Im Namen des Volkes…

… hat der Thüringische Verfassungsgerichtshof heute entschieden, dass das Thüringische Paritätsgesetz verfassungswidrig ist. Der bayrische Verfassungsgerichtshof sieht das ähnlich. In Brandenburg steht eine Entscheidung durch das Landesverfassungsgericht noch aus. Zu dem thüringischen Urteil sind drei Sondervoten ergangen, die das anders sehen. Mit der Entscheidung des Thüringischen Verfassungsgerichts wird die Diskussion um weibliche Partizipation in den Parlamenten nicht aufhören. Zumal seitens Paritätsbefürworterinnen und -befürwortern alternative Gesetzesvorschläge folgen werden.

 

I. Rechtslage

In der juristischen Literatur ist die Verfassungsmäßigkeit eines Paritätsgesetzes heillos umstritten. Von einer Pflicht des Gesetzgebers ein Paritätsgesetz einzuführen bis hin zur Verfassungswidrigkeit wird alles vertreten. Gemeinsam haben die bereits umgesetzten oder angestrebten Paritätsgesetze, dass die Wahlvorschlagslisten abwechselnd durch Frauen und Männer besetzt werden müssen. Interpersonen können sich auf jeden Platz bewerben. Wird dieses Reißverschlussverfahren nicht eingehalten, wird die Liste nicht zur Wahl zugelassen oder neu besetzt.

Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist auf Bundesebene gemäß Art. 38 Abs. 3 GG dem Bundesgesetzgeber überlassen. Entsprechendes gilt für die Landesgesetzgebung zu Landtags- und Kommunalwahlen. Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Gesetzgeber diesbezüglich einen weiten Spielraum zu, der die Auswahl des Wahlsystems und dessen Durchführung umfasst. Dieser weite Gestaltungsspielraum wird alleine durch das höherrangige Verfassungsrecht begrenzt. Für und gegen die Verfassungsmäßigkeit der Paritégesetzgebung sprechen mehrere verfassungsrechtliche Gebote und Prinzipien, die letztendlich in einen schonenden Ausgleich zu bringen sind.

 

1. Parteienfreiheit und Wettbewerbschancengleichheit

Die an Parteien adressierte Verpflichtung ihre Listen paritätisch zu besetzen, greift in die Parteienfreiheit und Wettbewerbschancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 2, 1 GG (i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) ein. Ersteres schützt die Parteien vor staatlichen Einwirkungen und gewährleistet nicht nur die Freiheit der Gründung, sondern auch die Freiheit der parteilichen Betätigung. Welchen Listenplatz die einzelnen Kandidatinnen und Kandidaten erhalten, ist Ausdruck inhaltlicher Schwerpunktsetzung der Parteien. Eine gesetzliche Vorgabe, mit welchen Geschlechtsproportionen die Wahllisten aufzustellen sind, schränkt die Parteien in ihrer inhaltlichen und personellen Auswahlfreiheit ein. Die gewählten Personen sollen den Parteien innerhalb der parteilich bevorzugten Zielgruppe auch einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. So mobilisiert eine paritätisch besetzte Liste die urbane Wählerinnenschaft des Bündnis 90/Die Grünen sicherlich mehr, als es die patriarchale Wählerschaft der AfD anspricht. Auch der unterschiedliche Frauenanteil innerhalb der Parteien bei gleicher Verpflichtung zu 50% kann die Kandidatinnenauswahl für Parteien mit geringem Frauenanteil erschweren. Die Pflicht abwechselnd Männer und Frauen aufzustellen steht mithin der Wettbewerbschancengleichheit im Weg.

 

2. Passive und aktive Wahlfreiheit

Die Wahlfreiheit ist in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankert. Sie ist unabdingbares Merkmal demokratischer Meinungsbildung und Legitimation. Sie gewährleistet das Recht zur freien Wählbarkeit (passive Wahlfreiheit) und der freien Findung und Ausübung der eigenen Wahlentscheidung (aktive Wahlfreiheit). Letztere ist beim Vorgang der Wahl beeinträchtigt, wenn Wählerinnen und Wählern eine staatlich vorgefilterte Liste vorgelegt wird. Viel wichtiger aber ist, dass die Wahlfreiheit nach ganz überwiegender Ansicht nicht nur den Vorgang der Wahl, sondern auch die Wahlorganisation betrifft. Dazu gehört auch das freie Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlberechtigten. Dieses ist begrenzt, wenn der oder die Wahlberechtigte sich nicht auf dem ursprünglich gewünschten Listenplatz aufstellen lassen und gewählt werden kann.

 

3. Passive Wahlgleichheit

Auch die Wahlgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG erstreckt sich auf den Zeitraum der Wahlorganisation. Dabei muss jede wahlberechtigte Person denselben Zugang zur Aufstellung zur Wahl haben. Argumentiert wird nun, dass der Zugang zu Listenplätzen in Parteien für Frauen aufgrund struktureller Diskriminierungsmechanismen ungleich schwerer sei als für Männer. Kann man nachweisen, dass diese Diskriminierungsstrukturen in einer Partei vorherrschen, ist der Zugang zu Listenplätzen faktisch ungleich. Legt man dieses materielle Gleichheitsverständnis zugrunde, könnte also über die Herstellung gleicher Zugangsvoraussetzungen wie eine ausgleichende Quote nachgedacht werden. Dem haben das Bundesverfassungsgericht sowie die herrschende juristische Literatur seit jeher eine Absage erteilt. Das Grundgesetz legt ein streng formelles Gleichheitsverständnis zugrunde, was im Widerspruch zu der ergebnisorientierten materiellen Leseart steht. Gleichheit im formellen Sinne betrifft alleine die gleichen rechtlichen Zugangsvoraussetzungen. Und diese sind gerade nicht erfüllt, wenn für den Listenplatz X ein bestimmtes Geschlecht vorgewiesen werden muss.

 

4. Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund des Geschlechts

In eine ähnliche Richtung lässt sich unter Bezugnahme auf Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG argumentieren. Hiernach ist jede staatliche Bevorzugung oder Benachteiligung einer Person aufgrund ihres Geschlechts nur unter strenger Rechtfertigung möglich. Ein Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG vorgehender sachlicher Grund ist allerdings das Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, sodass eine auf Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG gestützte Argumentation schwach ist. Bei binärer Ausgestaltung des Paritätsgesetzes kann auch eine Benachteiligung von Inter- oder Trans-Personen einschlägig sein. Können/Dürfen/Müssen diese sich hingegen einem „männlichen“ oder „weiblichen“ Platz zuordnen, ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG betroffen.

 

5. Gleichberechtigungsgebot

Letztendlich findet jedes Gegenargument seinen Weg zu Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG. Denn der Eingriff oder die Ungleichbehandlung können dann gerechtfertigt sein, wenn ein legitimes Ziel den beeinträchtigten Interessen überwiegt. Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG bestimmt, dass der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Er geht somit über ein rein formelles Gleichheitsverständnis hinaus und konstatiert einen Verfassungsauftrag, welcher sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Das ist mit den oben genannten Beeinträchtigungen in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Zu berücksichtigen sind dabei Regelungsalternativen und der Umstand, dass der freie und gleiche Zugang zur Wahl wesentliche Pfeiler unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung sind. Schwer ins Gewicht fällt auch der staatliche Sanktionsmechanismus, den Listenvorschlag der Partei nicht zur Wahl zuzulassen oder die Reihenfolge anzupassen. Wie man diese widerstreitenden Interessen gegeneinander abwägt, ist letzten Endes eine Wertungsfrage – das thüringische Verfassungsgericht hat Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG aus genannten Gründen in einem Verhältnis von 6:3 nicht als überwiegend angesehen.

 

6. Demokratieprinzip

Juristisch derzeit noch zu vernachlässigen, aber auf demokratietheoretischer Ebene umso interessanter sind Argumentationsstränge, die sich auf das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2, 1 GG berufen. Eine zunehmend forcierte Identitätspolitik fördert die Annahme, dass die einzelnen individuellen Identitäten der gemeinsamen Identität als Bürgerinnen und Bürger vorgehen. Demokratische Repräsentation und damit auch Legitimation würde demzufolge nicht mehr aus einer demokratischen Wahl durch das Staatsvolk, sondern durch die Spiegelung der gesellschaftlichen Identitäten im Parlament folgen. Konsequenterweise müsste man die Quotierungen dann zumindest auf ähnlich stark diskriminierte Gruppen ausweiten, bspw. auf People of Color. Das Grundgesetz legt mit dem freien Mandat in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ein anderes Demokratieverständnis zugrunde: Zwar kann und will die oder der einzelne Abgeordnete nicht alle Interessen des Volkes vertreten, aber jedenfalls die Gesamtheit aller demokratisch gewählten Abgeordneten repräsentiert die Gesamtheit des Volkes. Das kann verfassungspolitisch höchstens dann infrage gestellt werden, wenn bestimmte soziale Perspektiven nicht oder nur äußerst geringfügig vertreten sind. Eine Spiegelbildlichkeit erfordert das Demokratieprinzip jedenfalls nicht.

 

II. Politische Bewertung

So wichtig es auch ist die Verfassungswidrigkeit der thüringischen Paritätsgesetzgebung anzumahnen; ausruhen sollte man sich auf dieser Entscheidung nicht. Rechtsetzung und Rechtsauslegung sind dem gesellschaftlichen Wandel an Wertevorstellungen unterworfen. Dass Verfassungsgerichte in zehn Jahren anderer Ansicht sein könnten, hat sich mehrfach bestätigt. Auch eine Grundgesetzänderung wie in Frankreich wäre ein denkbarer Weg. Die Frage um die Einführung eines Paritätsgesetzes bedarf insofern einer politischen Auseinandersetzung. Überraschend ist hierbei, wie wenig alternative Vorschläge akzeptiert werden.

 

1. Direktmandate

Denn wer wirklich etwas an der Geschlechterverteilung unter den Abgeordneten verändern will, ändert etwas an den Wahlkreisen. Von den 246 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion sind 231 über den Wahlkreis und 15 über die Landeslisten in den Bundestag eingezogen. Während die Listen einen Frauenanteil von 39, 8% (CDU, bei 26, 5% Frauen in der Partei) bzw. 27% (CSU, bei 20% Frauen in der Partei) aufweisen konnten, beträgt der Frauenanteil in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion 20, 7%. Dieser Unterschied überrascht im Vergleich zu dem Frauenanteil auf der Landesliste bei nur 6% Listenmandaten und bei ursprünglich 188 direkt gewählten männlichen Abgeordneten nicht. Bei der SPD sieht es ähnlich, aber nicht ganz so drastisch aus. Nur 15 Frauen, aber 44 Männer wurden 2017 direkt gewählt. Die 49 Frauen, die ursprünglich über die paritätisch besetzten Landeslisten einzogen, konnten das bei 45 männlichen Listenmandaten nicht ausgleichen. Wären die Direktmandate der beiden „Volks“-Parteien geschlechtergerecht aufgeteilt gewesen, würden 87 Frauen mehr im Bundestag sitzen. Damit läge der Frauenanteil nicht bei 30, 7% sondern bei 43%. Wird die Liste der CDU/CSU-Fraktion nun paritätisch besetzt (die SPD-Listen waren es schon) und die Direktmandate beibehalten, wären wir 2017 um 1,5 weibliche CDU/CSU-Abgeordnete bereichert worden. Gemeinsam mit paritätisch besetzten Listen aller anderen Parteien würde das zu 59 mehr Frauen im Bundestag führen. Der Frauenanteil läge dann nur bei 39,5%. In Niedersachsen stellt sich die Situation durch die vollständige Besetzung der SPD-Fraktion aus Direktmandaten und einen noch eklatanteren Männerüberhang der CDU-Direktmandate noch deutlicher dar: Paritätisch besetzte Listen aller Parteien würden den Frauenanteil nur um 6 Frauen anheben. Das bedeutet einen Anstieg von 28, 47% auf 32, 85%. Bei gleichermaßen verteilten Direktmandaten steigt der Frauenanteil (ohne paritätische Liste) mit 22 Frauen mehr auf 44, 5% an. Die derzeitige Ausgestaltung des Paritätsgesetzes nimmt also bei geringeren Erfolgszahlen ausschließlich kleine Parteien mit geringer Chance auf Direktmandate in die Verantwortung. Wieso also nicht auf die großen, mitgliederstarken Parteien schießen und schneller zum Erfolg kommen? Konkret würde das mit einer Halbierung/Vergrößerung der Wahlkreise mit Besetzung einer Doppelspitze funktionieren. Mit der Erststimme würde dann ein Team aus Mann/Frau, Frau/Divers, Mann/Divers gewählt werden. Da weiterhin zwei Personen auf zwei ehemalige Wahlkreise treffen, würde sich auch der Vertretungsschlüssel nicht zuungunsten des regionalen Kontakts verschlechtern. Das bringt den weiteren Vorteil mit sich, dass alle Geschlechter im Wahlkampf sichtbar werden und dadurch auf lange Sicht von einer Vorbildwirkung profitiert werden kann.

Ein Ansetzen bei den Wahlkreisen wurde in Brandenburg dennoch als zu heikel bewertet. Ist die Erhöhung des Frauenanteils in den Parlamenten durch andere Regelungen als die eigene quotierte Liste also doch zu revolutionär? Neben der ebenfalls getätigten Äußerung man wisse um die Kritik, hoffe aber, dass das Verfassungsgericht alternative Gesetzesvorschläge mache, offenbart das ein fragwürdiges Rechts- und Politikverständnis. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts auf Abruf einer bewusst leichtfertigen „Wer-nicht-wagt-der-nicht-gewinnt“-Einstellung Auskunft zu erteilen und darüber hinaus auch noch Ideen für verfassungskonforme Alternativen aufzulisten. Das ist im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Aufgabe des Justizministeriums oder des Gesetzgebungs- und Beratungsdienstes, dessen Mahnungen in Brandenburg gekonnt ignoriert worden sind.

Politisch wird es sich hier sehr einfach gemacht: Die eigenen bekannten und bewährten Satzungsregelungen einiger Parteien sollen nun verfassungswidrig alle Parteien binden. Andere Wege zum Ziel gibt es nicht.

 

2. Unterlisten

Dabei sind nicht nur Doppelspitzen in den Wahlkreisen ein gangbarer Weg. Ein den Grundsatz der Freiheit der Wahl noch wahrender Vorschlag ist die Einführung von Unterlisten. Jede Partei könnte freiwillig zu ihrem Wahlvorschlag beliebig oder begrenzt viele Unterlisten bestehend aus einzelnen Gruppierungen hinzufügen, bspw. mit Jugend-, Senioren-, Frauen-, Männer-, Trans- oder nichtakademischen Personen. Gewählt werden kann entweder die Vorschlagsliste der Partei oder die Unterlisten, die ebenso als Stimme der Partei zählen würden. Die gewählten Personen der Unterliste würden auf der Hauptliste dadurch nach oben rutschen können. Wie viele Frauen davon tatsächlich profitieren, läge in der Hand von Wählerin und Wähler – wenn man hinter dem Konzept der Identitätspolitik steht, auch eine demokratisch vertretbare Lösung. Oder?

 

3. Parteien als Filter

Verkannt werden darf in der ganzen Diskussion nicht, dass die Parteien mit ihrer Listenaufstellung bereits jetzt eine Filterfunktion erfüllen. Jede Partei außer die AfD hatte 2017 mehr Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen als sie weibliche Mitglieder hat. Das ist auch der Anerkennung unterschiedlicher sozialer Perspektiven unter Männern und Frauen sowie den besseren Arbeitsstrukturen in diversen Teams geschuldet. Dass nicht noch mehr Frauen sichtbar werden, zeigt das eigentliche Problem auf: der Frauenanteil in den Parteien, der in keiner deutschen Partei bei 50% liegt. Parteiarbeit ist für Frauen immer noch unattraktiver als für Männer; die ursprünglich männlichen Zusammenschlüsse wirken nach. Dass der langatmige Weg diese zu durchbrechen zu Quoten einlädt, ist aus illiberaler Perspektive nachvollziehbar. Das Ignorieren eines angemahnten Verfassungsverstoßes wegen wesentlicher demokratischer Grundzüge, ist es nicht. Wenn man sich hinter das Konzept der Identitätspolitik stellen und die Anzahl von Frauen in den Parlamenten auf 50% erhöhen möchte – und die politische Haltung dazu bleibt an dieser Stelle allen Leserinnen und Lesern selbst überlassen – dann gibt es jedenfalls andere Wege.