September 2020: In Memoriam

Ein Leben in den Diensten des Rechts; und was bleibt? Ein Ordner voller Liebesbriefe, ein paar Hanteln, die letzten Mitbringsel aus Indien, ein Opernkostüm und ein Klavier. Dutzende Krägen – überwiegend Spitze –, im Schrank des unscheinbaren Büros, in dem unzählige Sondervoten und Urteile verfasst worden sind, die das US-amerikanische Recht veränderten. Am 18.09.2020 ist eine Juristin verstorben – eine Frau, eine Liberale, eine Feministin, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter –, die das Ideal der Gleichberechtigung aller Geschlechter in das US-amerikanische Case-Law-System implementiert hat. „Ich liebe das Recht innig“ hat sie einmal gesagt; sie hat es der Welt bewiesen.

Zum Ende ihres Lebens als Superheldin „Notorious R.B.G.“ durch ihre vielen abweichenden Mindermeinungen (Sondervoten) in der Öffentlichkeit bekannt, zeichnet ihr Charakter das Bild einer etwas anderen Frau.

 

„If you’re a boy and you like teaching, you like nursing, you like to have a doll, that‘s okay. We should each be free to develop our own talents (…).“

Als Tochter einer jüdischen US-Amerikanerin erster Generation und einem jüdischen Einwanderer, dem in Odessa als Jude die höheren Bildungsebenen versperrt geblieben waren, wurde sie in Brooklyn mit dem Wissen um den Wert von Bildung erzogen. Ruth Bader ging anschließend auf die Cornell University. Dort traf sie Martin Ginsburg, verliebte sich und heiratete ihn. Für beide schloss sich ein Jurastudium in Harvard an; sie als eine der ersten neun Frauen im Jahrgang 1956; er unter knapp 500 Männern im Jahrgang 1955.
Als Marti während des Studiums schwer an Krebs erkrankte, schob sie Nachtschichten ein, tippte seine Unterlagen ab, kümmerte sich um die gemeinsame, einjährige Tochter, blieb eine der Jahrgangsbesten, erhielt die Ehre Redakteurin der Harvard Law Review zu sein und begleitete ihren langsam genesenden, anschließend Vollzeit arbeitenden Mann nach New York. Dort schloss sie an der Columbia University ihr Studium ab. In dieser Zeit hatte sie gelernt die Nächte durchzuarbeiten – eine Arbeitshaltung, die sie ihr Leben lang nicht mehr aufgab. So lachte Martin Ginsburg auf die Frage hin, ob er seiner Frau jemals Ratschläge erteilen würde: „Eine Mahlzeit am Tag und ein ganz bisschen Schlaf – ich finde das sind gute Ratschläge, oder?“ Tatsächlich holte er sie in ihrer Zeit am Supreme Court zwischen 19:30 Uhr und 21:00 Uhr regelmäßig zum Abendessen ab.
Arbeit bedeutete für sie: Schreiben, Lesen, Argumentieren, Lernen, Auseinandersetzen, Verstehen und Überzeugen. Ruth Bader Ginsburg war keine Aktivistin, Demonstrantin, Politikerin – die Rolle überließ sie gerne anderen. Ruth Bader Ginsburg war eine pragmatische Idealistin, eine begabte Juristin, die ihr Talent gezielt für die schrittweise Veränderung der Rechtsprechung in den USA einsetzte. Nachdem sie trotz ihrer außerordentlichen Studienleistungen und vielen Empfehlungen keine Anwaltskanzlei aufnehmen wollte (ihr Mann verdiene doch genug), arbeitete sie 1963 als Professorin an der Rutgers Law School. Ab 1973 leitete sie das Womens Rights Project der American Civil Liberties Union, das es sich zum Ziel gesetzt hatte möglichst viele Fälle geschlechtsbezogener Diskriminierung schrittweise vor den Supreme Court zu bringen. So erzielte sie von 1973-1976 fünf Grundsatzurteile zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Diese wurde im US-amerikanischen Case-Law-System wichtige Präzendenzurteile und stellten die Grundlage dar, Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts an vielen anderen Stellen zu beenden. In zwei dieser Fälle kämpfte sie gegen die Diskriminierung von Männern. Ruth Bader Ginsburg wusste, dass Feminismus nicht eingeschlechtlich denkbar ist.

Und so ist es umso erstaunlicher, dass einige der heutigen feministischen Strömungen diese von ihrer Ikone früh erkannte Wechselwirkung von Frauen- und Männerbildern nicht in ihr Wirken einbeziehen. (Liberaler) Feminismus kann nie nur aus der weiblichen Perspektive gedacht werden. Wenn konservative Politik also nach einem verheerenden Brand in einem katastrophalen Menschenlager sich höchstens für ein Frauen-und-Kinder-zuerst erbarmen lässt; wenn deutsche Medien titeln, dass Herr Lukaschenko mittlerweile „sogar Frauen“ inhaftieren würde; wenn ein potentiell zukünftiger CDU-Parteivorsitzender nach einem schwulen Bundeskanzler gefragt wird, dann haben sich diesen Monat nicht nur gravierende Probleme in der Geflüchtetenpolitik, mit Diktaturen auf dem europäischen Kontinent oder der Einordnung von Pädophilie und Homosexualität aufgetan. Dann haben wir zusätzlich ein Problem mit ungesunden Männlichkeitsbildern, für die der Feminismus seine Stimme erheben muss.

 

„Women belong in all places where decisions are beeing made“

Als Ruth Bader Ginsburg an den Supreme Court berufen worden war, war sie bereits 60 Jahre alt. Zu alt befanden viele und ursprünglich wohl auch der Präsident, auf dessen Liste sie angeblich nur die Nr. 22 gewesen sein soll. Martin Ginsburg, der sich mittlerweile einen Namen als bester Steuerrechtler New Yorks gemacht hatte und Zeit seines Lebens ihr größter Bewunderer blieb, nutzte seine Kontakte, um Werbung für seine Frau zu machen. Sie wurde zum Gespräch mit dem Präsidenten geladen und überzeugte nach nur 15 Minuten. Sie wird ihn bei ihrer Anhörung vor der Wahl zur Richterin am Supreme Court als „Mann, der für seine Generation etwas ganz Besonderes war“ beschreiben, weil er „der erste Junge war, der sich dafür interessierte, dass ich ein Gehirn hatte“. Er wiederum wird sich lachend erinnern: „An unserem ersten Treffen dachte ich: Man, ist die süß. Nach dem dritten Treffen dachte ich: Man, die ist wirklich, wirklich schlau. Daran hat sich bis heute nichts verändert.“
In ihrer ersten Zeit am Supreme Court ging es ihr zunächst darum Kompromisse für Mehrheitsmeinungen zu finden; andere anzuhören und zu überzeugen. Ihr eigenes Motto „Fight for your principles, but do it in a way that will lead others to join you“ konnte sie lange Zeit umsetzen. Nachdem unter George W. Bush ein deutlicher Überhang an konservativen Richtern entstand, die nicht mehr auf Kompromisse angewiesen waren, verfasste sie immer häufiger abweichende Meinungen, sogenannte Sondervoten, in denen sie jedenfalls ihren Standpunkt verdeutlichen konnte. Eine sehr enge Freundschaft verband sie mit Antonin Scalia, ein streng konservativer Richter, der die Rechtsmeinung vertrat, die Verfassung müsste im Sinne der Verfassungsväter von 1787 ausgelegt werden.
Nachfolgen soll ihr nun seine Schülerin Amy Coney Barrett, die ebendiese Ansicht und damit gerade keine feministischen Interessen vertritt.

Wenn aktuell das brandenburgische Paritätsgesetz vor dem Landesverfassungsgericht verhandelt wird, stellt sich in Deutschland erneut die Frage, wie sehr die Perspektive der Frau tatsächlich nur durch ein paritätisch besetztes Parlament berücksichtigt werden kann. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff mahnte vor einer Woche jedenfalls zur Vorsicht an. Es sei eine rückwärtsgewandte Vorstellung, dass man nur von seinesgleichen vertreten werden könne. Frauen in Entscheidungsfunktionen sind wichtig. Weibliche Vorbilder, weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit und weibliches Selbstvertrauen können Diversität in männerdominierte Bereiche bringen und einen Unterschied machen. Einen Prozentsatz von 50, 7 % erfordert dieser feministische Fortschritt nicht. Denn wer trägt liberal-feministische Werte in die Welt – ein Martin Ginsburg oder eine Amy Coney Barrett?

 

„Women will only have true equality when men share with them the responsibility of bringing up the next generation“

Viel wichtiger ist es, schrittweise (wie wir von Ruth gelernt haben) ein gesellschaftliches Umdenken von Geschlechterrollen zu erzielen. Im Besonderen gilt das für die Aufteilung von Care-Work bei der Kindererziehung. Diesen Monat ist die FDP mit einem Vorstoß sichtbar geworden, der ermöglichen soll, dass Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften in Mutterschutz oder Elternzeit gehen können. Bisher ist das nicht der Fall. Der Gesetzgeber geht also entweder von kinderlosen Vorständen oder von Vätern aus, die doch wohl keine Elternzeit nehmen wollen. Noch immer gehen nur 37% der Väter, aber 90% der Mütter in Elternzeit. Die häufigste Konstellation sind dabei zwölf Monate für die Mutter und zwei Monate für den Vater. 69 % der Mütter, 6% der Väter gehen im Anschluss in Teilzeit arbeiten. Der Grund ist in vielen Fällen immer noch, dass der Vater mehr verdient als die Mutter. Anstatt sich dem FDP-Vorschlag anzunehmen, ging das Bundesfamilienministerium mit einem Reformvorschlag für das Elterngeld eigene Wege. Spitzenverdienerinnen und -verdiener sollen fortan vom Elterngeldanspruch ausgeschlossen sein, was sicherlich gerade gut verdienende Männer noch weniger auf ihr Gehalt verzichten lässt. Bei solchen Gesetzen, einem unattraktiven Partnerschaftsbonus, einer Anreizsetzung für das zwei-Monate-Elternzeit-Modell und anhaltenden Rollenbildern ist es daher kein Wunder, dass die Diskussion um Frauen in Führungspositionen, Frauen in der Politik oder auch „nur“ mehr Frauen auf Vollzeitstellen festgefahren ist. Ruth Bader Ginsburg gab eine andere Richtung vor: Der letzte Schlüssel für Karrierewege von Frauen liegt nach den erkämpften Erfolgen in der Arbeitswelt vor dem Eigenheim. Sie jedenfalls lebte eine solche Partnerschaft vor.

„Meine liebste Ruth,
(…) Was für ein Vergnügen es war, dich an die Spitze der juristischen Welt aufsteigen zu sehen. Ich habe dich fast vom ersten Tag an bewundert und geliebt. Für mich ist die Zeit gekommen, dieses Leben zu verlassen. (…) Ich hoffe, du verstehst diese Entscheidung. Doch ich verstehe, wenn du es nicht tust. Dann werde ich dich kein bisschen weniger lieben.
– Marti“

Es war auch uns ein Vergnügen – wir kämpfen weiter.