Mai 2020: …und sie dreht sich doch

Das Zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen ist mal wieder schwer in Mode. Schon Galileo Galilei musste am eigenen Leib erfahren, dass Menschen nur an das glauben, was sie selbst sehen können. Und ebenso wie die Erde sich nicht dreht, weil wir doch ansonsten alle Schwindelanfälle bekommen müssten, kann auch kein bösartiges Virus existieren, dessen Virionen unsere Augen nicht erfassen. Die Anzahl an Corona-Demos hat sich diesen Monat derart zugespitzt, dass man nur noch auf den Inquisitionsprozess von kritischen Bürgern mit Mistgabeln und „Wir sind das Volk“-Plakaten wartet, der Prof. Drosten zu einer Revision seiner Aussagen zwingen will. „Und es existiert doch“ soll er am Ende gemurmelt haben.

Feministische Argumentationslinien haben ein ganz ähnliches Problem: Wer die Feinheiten sexistischer Strukturen nicht bewusst selbst erlebt oder aufmerksam beobachtet, sieht sie nicht. Statistiken? Falsch berechnet. Erfahrungsberichte? Einzelfälle. Presseschau? Verzerrt, Geframt, Grünversifft. Patriarchale Strukturen? Existieren schon längst nicht mehr.

 

Zufälligerweise bringt ebenjene, von selbsternannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angezweifelte Pandemie ein ganz anderes Bild zu Tage. Nachdem das staatliche Angebot der Kinderbetreuung wegbrach, reduzierte jede vierte Frau und jeder sechste Mann die Arbeitszeit. Nach einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialpolitischen Instituts übernehmen 54% der Frauen und 12% der Männer in der Krise den überwiegenden Teil der Kinderbetreuung. Rund ein Drittel der Paare teilt sich die Kinderbetreuung gleichermaßen auf.

Trotz der Dauerbelastung zwischen Home-Schooling und Home-Office, fährt der Schulbetrieb nur sehr langsam wieder hoch. Die Krippen und Kindergärten befinden sich noch immer in der Notbetreuung. Die Stadt Hannover geht davon aus, dass das ganze Jahr 2020 kein Regelbetrieb mehr aufgenommen werden kann. Dass es anders geht, macht Dänemark seit Mitte April vor. Dort umfassten die ersten Lockerungsmaßnahmen das Betreuungs- und Bildungsangebot für Kinder. Zwar fordert auch unsere zuständige Ministerin, Franziska Giffey, gebetsmühlenartig einen Zeitplan für Kita-Öffnungen. Auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin hat diesen Monat ein Papier veröffentlicht, was eindrücklich nach Lockerungen für Kinder schreit. Neben zwei optimistisch stimmenden Studien zur Krankheitserregerträgerschaft von Kindern aus Island und den Niederlanden und deutschen Studien zu Frauen in der Corona-Krise vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung oder dem Wirtschafts- und Sozialpolitischen Institut drängt sich der Handlungsbedarf nahezu auf. Politische Priorität haben die Karrieren der Mütter oder die Psyche der Kinder gleichwohl nicht – da konnten Baumärkte, Autohäuser & Co anscheinend auf stärkere Fürsprecherinnen und Fürsprecher vertrauen. Die einzige Lobby, die für Frauen und Kinder langsam mit den Füßen zu scharren beginnt, sind die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber der Home-Office-Home-Schooling-Mums, die die ständigen Ausfälle wirtschaftlich langsam nicht mehr tolerieren können.

 

Der schnelle Rückfall in traditionelle Eltern- und Partnerschaftsmuster zeigt, wie sehr das Konzept der gleichberechtigten Elternschaft auf hölzernen Füßen steht. Die individuelle Lebensgestaltung der Paare mag eine nachvollziehbare (finanzielle) Überlebensstrategie in der Krise sein. Frei ist die Entscheidung nicht. Über unser Selbstverständnis und das politische Anreizsystem sagt es viel aus, dass in Deutschland Paare ohne staatliches Unterstützungsangebot eher auf das Einverdienermodell, statt auf ein gleichermaßen reduziertes Zweiverdienermodell setzen. Hinzu kommt, dass auch entgeltliche Care-Work immer noch Frauensache ist. Ehemalige Aufgaben einer Hausfrau sind in überwiegend unterbezahlten Berufen ausgelagert, die wiederum mindestens auf einen Frauenanteil von 80% kommen. Kindergärtnerinnen, Grundschullehrerinnen, die Putzkräfte, Krankenschwestern oder Altenpflegerinnen halten anderen Frauen gewissermaßen den Rücken frei, damit diese nicht zwischen Familie und beruflicher Selbstverwirklichung wählen müssen. Care-Work wird immer noch ganz überwiegend von Frauen bewältigt – ob in Teilzeit zuhause, mit geringer Bezahlung im Job oder eben im Krisenzustand.

 

Patriarchale Strukturen? Und sie existieren doch.

 

Judikative

Genauso wie die Welt sich dreht. Auch die Feministische. In Thüringen hatte der Verfassungsgerichtshof den Fall einer Landtagsabgeordneten vorliegen, die ihr Baby mit in den Plenarsaal genommen hatte und prompt von der Sitzung ausgeschlossen worden ist.  Die Richterinnen und Richter schlugen erfolgreich einen Vergleich vor, der ein Mitnahmerecht für Kinder bis zu einem Jahr regelt. Eine Ausnahme besteht bei übermäßiger Störung durch das Kind.

Das Bundesverfassungsgericht hatte zur gleichen Zeit einen komplizierteren Fall mittelbarer Benachteiligung auf dem Tisch liegen: Schon länger sträubten sich Frauenverbände gegen §17 des Versorgungsausgleichsgesetzes. Konkret geht es um die Betriebsrente, für die in Scheidungsverfahren eine Ausnahme zu der üblichen Aufteilung der Rentenansprüche besteht. Danach können Rentenansprüche an einen anderen Versorgungsträger übertragen werden. Wegen der fallenden Zinsentwicklung entstehen dabei Transferverluste, der Ausgleichsanspruch des Teils mit dem geringeren Einkommen (in der Regel die Ehefrau) verringert sich. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese faktische Reduzierung zwar als verfassungsgemäß, will die Transferverluste aber auf 10% begrenzt wissen.

 

Legislative

Neben der Judikative wurden auch Teile der Legislative in eigener Sache aktiv. Die durch die Corona-Krise befeuerte Frage nach der (Wieder-)Kriminalisierung von Prostitution spitzt sich weiter zu. 16 Bundestagsabgeordnete von Union und SPD fordern nun die Einführung des sogenannten Nordischen Modells, nach dem Sexarbeit verboten wird, aber jedenfalls für die Prostituierte sanktionslos bleibt. Das Papier prangert die aktuellen Zustände als „menschenunwürdig, zerstörerisch und frauenfeindlich“ an. Damit trifft es durch die wachsenden kriminellen Strukturen in der Szene, konkret den ansteigenden Zahlen an Zwangsprostitution und Menschenhandel, einen wesentlichen Punkt. Es verkennt dennoch, dass mit einer Kriminalisierung der Sexarbeit, die ohnehin schon straffälligen Zuhälter die aufgebauten Strukturen wahrscheinlich weiter nutzen werden – und das noch mehr als jetzt im Untergrund.

Derweil hat die FDP-Fraktionsvorsitzendenkonferenz einen Beschluss zur krisenfesten Aufstellung der Infrastruktur der Frauenhilfe in Deutschland gefasst. Das Papier beinhaltet unter anderem die Einführung eines länderübergreifenden Online-Registers für freie Frauenhausplätze, eine Erweiterung der Förderrichtlinien, den Einsatz von Hilftelefonen in Supermärkten, eine Hotline für Täterinnen und Täter und den Ausbau der Online-Beratung.

 

Die vierte Gewalt

Auch wenn der Beschluss medial keine Beachtung fand, brachte die vierte Gewalt sexualisierte Gewalt gegen Frauen eigenständig auf die Tagesordnung. Durch die Republik ging der fünfzehnminütige Beitrag „Männerwelten“ von Sophie Passmann auf dem Sendeplatz von Joko & Klaas bei ProSieben. Das düstere Video stellt Fallbeispiele sexualisierter Alltagsgewalt gegen Frauen dar und will vor allem männliche Zuschauer sensibilisieren. Vieles daran wurde auch aus feministischer Ecke kritisiert, maßgeblich aber bleibt: Die Primetime auf ProSieben sowie die vielfältige Verbreitung in den sozialen Medien dürfte die Zielgruppe erreicht und eventuell zum Nachdenken angeregt haben. Genau das ist ein Einfallstor für den liberalen Feminismus. Geht es um Alltagsdiskriminierungen bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Wachsamkeit und Reflektionsfähigkeit. Dafür braucht es keine Strafschärfungen nach der Kölner Silvesternacht bei der die Gefahr zu vermeintlich „frauenfeindlichen Fremdlingen“ abgeschoben wird. Wir benötigen eine Diskussion über und die Sichtbarkeit von sexistischen Mustern, die jede und jeder von uns mal mehr oder weniger stark auslebt. Die Verantwortung hierfür trägt jedes einzelne Individuum in seinem Umfeld, die Gesellschaft als Ganzes, aber auch die Medien, die durch ihre Reichweite Denkanstöße geben können.

 

Wer nun die Hoffnung wagt, dass von nun an zumindest ProSieben ihren Einfluss auf die Gesellschaft verantwortungsbewusst wahrnimmt, wird leider schwer enttäuscht: auf dem Streamingdienst „Joyn“ startete diesen Monat die neue Datingshow „M.O.M: Milf or Missy“, die mit großen Plakatierungen in der Öffentlichkeit und Werbeschaltungen in den sozialen Medien stark beworben wird. Gesucht wird mal wieder der Traummann oder die Traumfrau. Zur Verfügung steht ein 57-Jähriger „Senior, der sich jeden Luxus leisten kann“ und ein 28-Jähriger „Junior“, der als Fitness-Trainer arbeitet. Auf der Seite der Traumfrauen stehen entweder die jungen Missys oder die „alten Milfs“, wobei die älteste Frau uralte 46 Jahre zählt. Natürlich sind es auch deutlich mehr Frauen, die im die Gunst zweier Männer buhlen. Im Übrigen sind auch nicht alle „Milfs“ Mütter. Das tut aber weiterhin nichts zur Sache, da sie „die restlichen Anforderungen an das Wort (…) perfekt [erfüllen]“. Mal sind sie die „Frauen vom“ Senior und mal die „Frauen vom“ Junior – das Tagesprogramm bestimmt ihr jeweiliger Gruppenführer. Zuletzt hat „Junior Marco“ mit „seinen“ Frauen ein Fitnesstraining am Strand durchgeführt, wobei sein Job natürlich darin bestand weiblichen Körper in die richtigen Positionen zu grapschen. Wer nach dem Bachelor schon dachte es ginge nicht mehr schlimmer, hat hier ein Programm mit „zwei Alphamännchen auf dem Weg zu den weiblichen Hyänen“, Hahnenkämpfen, Zickenkrieg und sexueller Anbiederung gefunden.

 

Das echte Unterhaltungsprogramm

Für Spannung und Unterhaltung empfehle ich viel eher den US-amerikanischen Wahlkampf zwischen unserem 73-jährigen Super-Egomanen und unserem 78-jährigen Polit-Urgestein. Letzter will im Falle seiner Wahl für die nächste Personalfrage am Supreme Court eine Frau nominieren. Dass er überhaupt zum Zug kommt, ist vor allem aufgrund der konservativen Überhand im Supreme Court wichtig. Die 86-Jährige Ruth Bader Ginsburg, Anführerin des liberalen Flügels im Gericht und feministische Ikone, wurde diesen Monat ins Krankenhaus eingewiesen und kämpft von dort aus unermüdlich für die Hearings im Juni zur vermeintlichen Verfassungswidrigkeit des Abtreibungsrechts in den USA.

Für das Amt, was er sicher vergeben darf, versprach er schon jetzt eine Frau: Seine Vizepräsidentin wird weiblich. Mit Blick auf sein Alter plant er selbst maximal (wenn überhaupt) eine Amtszeit ein. Entweder bekommt eine Frau in dem Land, in dem nur 52% der Bevölkerung sich bei einer Präsidentin wohl fühlen würden, frühzeitig die Chance das Gegenteil zu beweisen. Oder aber sie kann sich vier Jahre lang als nächste Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei profilieren.

Unsere feministische Welt, sie dreht sich doch.