März 2020: Die Kennedys von Hannover

Ein charismatischer, junger Parlamentarier schlägt im November den konservativen Kandidaten im Rennen um das höchste Exekutivamt. An seiner Seite: eine schöne brünette Frau, die kurz nach der Wahl ihr zweites Kind bekommt und vor allem aufgrund ihrer Kleiderwahl neuer Liebling der Presse wird.

 

Was nach der Geschichte von John F. und Jaqueline Kennedy aus dem Jahr 1960 klingt, ist zufällig auch die Geschichte von Belit Onay und Derya Onay-Akbay im Jahr 2020. Belit Onay war Mitglied des Landtags, bis er im November das Amt des Oberbürgermeisters von Hannover übernahm. Daneben ist er seit diesem Monat frischgebackener Vater von zwei Kindern, der in Elternzeit gehen wird. Derya Onay-Akbay hat erfolgreich Jura und BWL studiert. Auf Vorschlag der niedersächsischen Landesregierung sitzt sie im Vorstand der Lotto-Sport-Stiftung und setzt sich dort für Migration und Sport sein. Daneben ist sie seit diesem Monat frischgebackene Mutter von zwei Kindern, die in Elternzeit gehen wird.

 

Beim Lesen der regionalen Tageszeitung wirkt es manchmal dennoch so, als befänden wir uns im Jahr 1960. Dort wurde beiläufig über „Deryas“ Polkadot-Kleid, das „bisher gehütete“ Geheimnis des Geburtstermins und über „OB Onays“ Führungsqualitäten im Kreissaal berichtet. Im Kreissaal? Zugegeben: Letzteres ist frei erfunden. Aber warum sonst heißt es in der Meldung „Familie Onay: Zweites Kind da“, dass Herr Onay sich mit den Fraktionschefs treffe und „ruhig und souverän“ in der Corona-Krise agiere? Schließlich wäre diese Information viel besser auf der Titelseite desselbigen Tages bei den anderen Informationen über das Corona-Management in Hannover verortet gewesen.

 

Das Paar wird in den führungsstarken Politiker und die schöne Frau an seiner Seite aufgeteilt – eine Rollenverteilung, die das Paar nicht in dieser Form repräsentiert. Wahrscheinlich passiert das unbeabsichtigt. Wir sind Geschlechterstereotype derart gewohnt, dass weder den Lesenden noch den Schreibenden auffallen wird, wie fehlplatziert oder verzerrt diese Informationen wiedergegeben werden. Aber gerade deshalb dürfen wir uns sympathischen, bekannten Idealen wie einem „niedlichen Baby im Rathaus“ nicht unreflektiert hingeben. Diese Inhalte bieten eine Identifikationsfläche, sie erfüllen eine Vorbildfunktion und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. So verständlich und berechtigt der Wunsch nach Ähnlichkeit sein mag, so gefährlich ist es, sie dort zur gesellschaftlichen Norm zu erheben, wo sie nicht vorliegt. Es entsteht eine verallgemeinerte Wertung, die es schwerer macht, sich von vermeintlichen Idealen zu emanzipieren und einer individualisierten Gesellschaft im Weg steht.

 

Die Vereinten Nationen

Dass gesellschaftliche Normen in der medialen Darstellung in Deutschland ein Problem sind, stellten die United Nations zuletzt 2017 bei der Untersuchung der Umsetzung(sdefizite) der UN-Frauenrechtskonvention fest. Diesen Monat wurden die Themen für den neuen Rechenschaftsbericht festgelegt, den das BMFSFJ nun vorzulegen hat. Öffentlich zugänglich sind die Einzelheiten noch nicht, doch es liegt nahe, dass sich im Vergleich zu 2017 wenig verändert hat. Damals wurden neben Geschlechterstereotypen in deutschen Medien unter anderem deutsche Unternehmen im Ausland und ihr Umgang mit Frauenrechten vor Ort, die mangelhafte Integration von migrierten Frauen und die Zahlen zu häuslicher Gewalt gerügt.

 

Dabei kann man dem BMFSFJ nicht vorwerfen diese Themen zu verschlafen. Vor allem hinsichtlich der Gefahr der ansteigenden Zahlen häuslicher Gewalt durch die Ausgangsbeschränkungen reagierte das Ministerium schnell und rief gemeinsam mit den 16 Gleichstellungsministerien der Länder leerstehende Hotels und ähnliche Einrichtungen zur Unterstützung der ohnehin schon überlasteten und unterfinanzierten Frauenhäuser auf. Einige Frauenhäuser haben bereits Aufnahmestopps verhangen. Bereits im März sind die Zahlen zu häuslicher Gewalt in Deutschland um 11% gestiegen, und das, obwohl der Monat nur eineinhalb Wochen Ausgangsbeschränkungen umfasst. In China stiegen die Zahlen zu häuslicher und sexualisierter Gewalt im gesamten Zeitraum der Ausgangsverbote um das Dreifache.

 

Auch das wird wohl Teil des Rechenschaftsberichts der Bundesregierung an die UN werden müssen. Anderswo fruchtet der Einsatz der UN erfreulicherweise. Der 1975 von der Organisation als internationaler Frauentag festgelegte 08. März wird mittlerweile weltweit gefeiert und sorgt jedes Jahr für eine große Aufmerksamkeit für frauenpolitische Themen. In dieser globalen Szenerie mit dabei: Die Jungen Liberalen Niedersachsen auf dem Landeskongress in Lingen. Gemeinsam beschäftigten wir uns mit drei herausragenden Projekten, von denen wir die Initiative von Frau Waris Dirie zur Abschaffung von weiblicher Genitalverstümmelung besonders hervorhoben und 200€ spendeten.

 

Schwangerschaft

Ausreichen tun solche Tage indessen nicht. Während sich am 08. März alle unbekümmert auf die Schulter klopften, musste die Westwing-Gründerin (eine von den 10% der weiblichen Vorstandsmitglieder in Deutschland) zu dieser Zeit ihren Vorstandsposten aufgeben. Grund: Das 1952 in Kraft getretene und 2018 erstmals reformierte Mutterschutzgesetz. Es umfasst keine Selbstständigen, Organmitglieder und Geschäftsführerinnen von Gesellschaften. Damit können diese Mütter außerhalb des Anwendungsbereichs des „Mutter“-Schutzgesetzes, das Amt nicht wie Arbeitnehmerinnen ruhen lassen. Ohne das Ruhen des Amtes trifft die Mutter aber die volle persönliche Haftung, obwohl sie in der Pause keine Kontrolle mehr über das Unternehmen hat. Viele können das, ohne in der Zeit zu arbeiten, finanziell nicht auf sich nehmen und geben das Amt infolgedessen ab. In der sich regelmäßig anschließenden Elternzeit sind auch Männer von der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern und Selbstständigen, Organmitgliedern und Geschäftsführern betroffen.

 

Abtreibung

Noch schwieriger dürften es nur Frauen haben, die vor der belastenden Frage stehen, ob sie das Kind überhaupt bekommen möchten. In Neuseeland hat die Premierministerin und junge Mutter Jacinda Ardern ihr Wahlversprechen eingelöst und Abtreibungen entkriminalisiert. Das Parlament stimmte für eine Legalisierung bis zur 20. Woche, danach ist ein Abbruch bei medizinisch attestierter psychischer oder gesundheitlicher Gefahr für die Frau möglich.

 

In Deutschland liegt die Frist für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen bei 12 Wochen. Neben der ärztlichen Konsultation ist eine weitere Beratung mit persönlichem Erscheinen verpflichtend. Das wird jetzt zum Problem. Die Vereine Doctors for Choice, Pro Choice und Pro Familia weisen darauf hin, dass die meisten Beratungsstellen coronabedingt nur noch telefonisch erreichbar sind und ein Schwangerschaftsabbruch in einigen Fällen daher entweder mangels persönlicher Beratung nicht legal durchgeführt werden kann oder bei weiterem Zeitablauf außerhalb der Zwölf-Wochen-Frist liegt. Selbst wenn die Beratung erfolgt ist, führen nur noch die wenigsten Zentren Abtreibungen durch, auch der beliebte Weg in die liberaleren Niederlande, Österreich oder Dänemark ist durch die Grenzschließungen keine Alternative mehr.

Problematisch ist das, weil Frauen das Kind entweder unfreiwillig austragen, obwohl ihnen die Gesetzeslage eine Abtreibung theoretisch gestattet oder aus Not Abtreibungen ohne medizinische und psychologische Beratung selbst vornehmen. Was können also Regierungsparteien tun, die an der aktuellen Fristenlösung nichts verändern und auch keine konservative Wählerschaft mit einer öffentlichen Debatte brüskieren wollen? Zumindest eine digitale Vorberatung und die Bestätigung der Straffreiheit der aktuellen Grauzone des medikamentösen Abbruchs bis zur neunten Woche im „Home-Use“ mit telefonischer Begleitung wären von großer Hilfe.

 

In Texas und Ohio wurde (natürlich) ein anderer Weg gewählt. Für den Zeitraum der Corona-Krise ist es allen medizinischen Zentren untersagt Abtreibungen durchzuführen. „Milder“ war die republikanische Partei auf Bundesebene im Senat. In dem Gesetz für Corona-Hilfen sollte ursprünglich festgeschrieben werden, dass die neue finanzielle Unterstützung nicht für Abtreibungen genutzt werden darf. Dieses selbstverständliche Verbot der Zweckentfremdung finanzieller Mittel war für alle anderen medizinischen Maßnahmen indessen nicht vorgesehen.

 

Aber was nützt es sich darüber zu ärgern? In diesen Tagen bleibt uns doch nichts anderes übrig als abzuwarten und zur Abwechslung mal einen netten Artikel in der Tageszeitung aufzuschlagen. Wie wäre es mit „Die Kennedys von Hannover“? – auf diese Schlagzeile warte ich schließlich schon viel zu lange.