Februar 2020: Für mehr Istanbul in Deutschland

Istanbul

Party auf dem Bosporus: am 01.02.2020 feierte die Istanbul-Konvention Geburtstag. Was nach einem Anlass zu Feierlichkeiten klingt, ist bitterer Ernst: die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europa-Rats, der die Vertragsstaaten zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt verpflichtet. Eigentlich würde die Istanbul-Konvention neun Jahre alt werden. Deutschland hat jedoch die Ratifikation verzögert, sodass wir hier nur den zweiten Geburtstag feiern können. Feiern? Auch sonst bestehen in Deutschland hinsichtlich der Konvention Umsetzungsdefizite. Dabei sind die Forderungen der Istanbul-Konvention recht einfach verständlich, viel Kreativität wird der Politik nicht abverlangt. Aufbau von Koordinierungs- und Monitoringstellen (Art. 9-11), bedarfsdeckende Unterstützungsangebote (Art. 8, 16, 22ff.), Harmonisierung von Gewaltschutz- und Aufenthaltsgesetz, Reform des Entschädigungsrechts (Art. 30 Abs. 2), unentgeltliche Rechtsberatungsstellen in Fällen häuslicher Gewalt (Art. 21, 57), die Regelungen zur Sterilisation nach § 1905 BGB in ihrer praktischen Umsetzung kritisch hinterfragen (Art. 39), eine bereits beantragte psychosoziale Prozessbegleitung Opfern sexualisierter Gewalt nicht erst nach der aktuell erforderlichen „Schutzwürdigkeitsprüfung“ beiordnen und… Moment: Eine gesonderte Prüfung der Schutzwürdigkeit für das Opfer eines Sexualdelikts, was einen psycho-sozialen Beistand im Strafverfahren beantragt? Die deutsche Liebe zur Bürokratie – sie leibt und lebt!

Zum Feiern ist da nicht zumute. Die Zahlen zu häuslicher Gewalt steigen nach der aktuellsten Studie des BKA weiter an. Mit 114.393 weiblichen und 26.362 männlichen Opfern im Jahr 2018 reichen die bundesweit 6400 Plätze in Schutzzentren selbst bei nur 20 % schutzsuchenden Opfern bei Weitem nicht aus. Durchschnittlich einmal am Tag wird eine Frau von ihrem Partner lebensgefährlich attackiert. Jeden dritten Tag stirbt ein weibliches, jeden elften Tag ein männliches Opfer.

Für mehr Istanbul in Deutschland.

 

Straßburg/Brüssel

Bei der schweren Kost sollte es doch erlaubt sein, sich schöneren Zahlen zu widmen: Geburtstag feiern in Deutschland nämlich nicht nur völkerrechtliche Verträge, sondern auch 787 600 neugeborene Kinder im Jahr. Auch hier begegnen wir Gewalt und auch hier war die deutsche Politik (selbstverständlich?) nicht eigeninitiativ tätig, sondern ließ sich erst einmal auf unionaler Ebene verpflichten. Aber erstmal von vorne: Mitte Februar wurde der Off-Label-Use des Magenschutzmittels Cytotec zur Einleitung von Geburten verteufelt. Dabei überlagerte eine emotionalisierte Debatte den eigentlichen Handlungsbedarf hinsichtlich der mangelnden Forschung, abgelaufener Richtlinien, überlanger Zulassungsverfahren für Medikamente und fehlender Zeit für die Aufklärung der Patientinnen in der Geburtshilfe. Der größte Missstand: der Mangel an Hebammen. Langsam werden in der Öffentlichkeit Berichte von Frauen laut, die robuste, gar gewaltvolle Methoden, überarbeitete Passivaggressivität oder auch das Angeschrien-Werden während der Geburt anprangern. Auch Hebammen äußern sich, klagen über eine zu hohe Belastung – gestresstes Verhalten und Fehlentscheidungen werden in der Folge offen eingestanden. Der Beruf gilt als unterbezahlt, die Plätze in der Ausbildung als zu knapp bemessen. Ohnehin basiert sie auf Standards der 1980er Jahre und als letzter EU-Mitgliedstaat garantiert Deutschland immer noch keine Wissensvermittlung auf Hochschulniveau. Infolge einer Umsetzungspflicht aus einer Richtlinie der Europäischen Union soll jedenfalls Letzteres mit der Einführung eines dualen Studiengangs verändert werden. Was den angehenden Hebammen die lang ersehnten moderneren Strukturen bringen kann und vom Deutschen Hebammenverband ausdrücklich begrüßt wird, ändert jedoch nichts an der Unterbezahlung und Unterbesetzung. Die bereits bestehenden Hebammenschulen werden nämlich abgeschafft. Ein Mangel an Nachwuchs ist also weiterhin zu erwarten – und damit sind nicht die Babys gemeint.

 

Hollywood

Wo waren wir? Bei leichter Kost – diesmal aber richtig! Und was wäre da besser als ein wenig die amerikanische Unterhaltungskultur auf der Oscarverleihung zu frönen? Und ja, auf Hollywood ist Verlass. Ebenso wie auf den US-amerikanischen Rechtsstaat beim Schuldspruch von Harvey Weinstein. Der ehemalige Filmproduzent wurde wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung von den Geschworenen für schuldig befunden. Die sexuellen Missbräuche galten lange als offenes Geheimnis bevor mutige Frauen sie lautstark anprangerten und in der Folge die #metoo-Bewegung mitbegründeten. Nun gewinnt Hollywood seine feministische Vorbildfunktion der 30er- und 40er-Jahren langsam zurück. Auf den Spuren von Katherine Hepburn, Irene Dunne, Myrna Loy & Co wandelten in diesem Jahr acht Regisseurinnen mit emanzipierten Frauenrollen in ihren Filmen, die Natalie Portman prompt auf ihrem Kleid verewigte. Männliche Unterstützung kam von Joaquin Phoenix, der das Publikum mit seiner teilweisen feministischen Rede begeisterte: „We fear the idea of personal change because we think that we have to sacrifice something, to give something up. But (…) I think (…) we can create, develop and implement systems of change that are beneficial to all sentient beings (…).”

 

Vatikan

Sein Wort in Gottes Ohren – also zumindest in den Ohren des Vertreters Gottes auf Erden. Dieser hat in diesem Monat der Reformbewegung das Zölibat zu liberalisieren und den Frauen Weihämter zuzusprechen eine Absage erteilt. So wird in der katholischen Kirche weiterhin die männer- wie frauenfeindliche Tradition hochgehalten, dass Männer sobald sie in die sexuellen Fänge des weiblichen Geschlechts kommen unzurechnungsfähig sind und Frauen ohnehin nichts zu sagen haben.

 

Berlin

Aber was stört uns der Vatikan, wenn die Vorherrschaft der katholischen Kirche in Deutschland längst vorüber ist. Zum Glück sitzen unsere politischen Führungspersönlichkeiten heute in Berlin. Dort waren zwei Ministerien gleich ganz besonders fleißig und stellten diesen Monat ihre Gesetzesvorhaben vor. Jeweilige Überschrift: Reform. Urheber: das BMFSFJ und das BMJV. Jeweiliger Inhalt: Nicht das, was meine Geschichtslehrerin mir unter dem Reformbegriff beigebracht hat. Mit ihrer „Reform“ des Elterngeldes will Frau Giffey Familien fördern mehr Elternzeit zu nehmen. Soweit so gut. Die nur minimalen Änderungen belassen immer noch die Rückzahlungspflicht des Partnerschaftsbonus bei auch unverschuldeter Stundenüberschreitung oder -unterschreitung und beschäftigen sich nicht mit Familien, die auf das Gehalt des Mannes angewiesen sind. Aber man kann den Partnerschaftsbonus jetzt statt für vier Monate auch nur für zwei Monate beantragen – das ging vorher nicht?!

Aber gut, der Wille zählt. Oder ist knapp daneben auch vorbei? Das trifft jedenfalls auf die Neuerungen des Justizministeriums zu. Es geht um Hasskriminalität im Netz und die „Erkenntnis“, dass häufig Frauen Opfer sexistischer Beleidigungen werden. Deshalb sollen jetzt Statistiken ausgebessert werden. Ansonsten wurde wieder einmal am NetzDG herumoperiert. Wie es besser geht? Überschrift: Antrag zum 79. Landeskongress der Jungen Liberalen Niedersachsen Nr. 400 und 700. Urheber: LAK Liberaler Feminismus. Inhalt: siehe Antragsbuch.

 

Hanau

Und damit ist eigentlich Schluss. Doch nach längerer Überlegung und emotionaler Anteilnahme komme ich nicht umhin, das rassistisch motivierte Attentat von Hanau zu thematisieren. Um die berechtigte Frage vorwegzunehmen: Was hat das mit Feminismus zu tun?

Die Idee der Ungleichberechtigung – der Höherrangigkeit des Einen über die Anderen – ist dem Wesen des Rechtsradikalismus immanent. Dieses Denkmuster äußert sich im Rassismus, aber auch im Sexismus. So ist das Frauenbild von – männlichen wie weiblichen – rechts orientierten Menschen häufig ein dem Männerbild Untergeordnetes. Gleichzeitig nutzt der Rechtsextremismus Sexismus, um seinen Rassismus zu fördern: Die perverse Konsequenz der rechten Ideologie ist das Erfordernis des Erhalts der „eigenen Art“, einhergehend mit der Idealisierung  der Rolle der Ehefrau und Mutter als einzig Richtige. Instrumentalisiert wird die Frau weiterhin als „schwaches“ Geschlecht, als Schutzobjekt des rechten Mannes, der sie vor „bösen Übergriffen“ „fremdländischer“ Männer schützen muss. Und auch die Angst, ledig zu bleiben, wird Studien zufolge regelmäßig mit dem Hass gegen Andere kompensiert. Zu guter Letzt wird auch der Kampf um Frauenrechte als Rechtfertigung für die vermeintliche Rückständigkeit einer Kultur missbraucht.

Diese fünf Aspekte verbinden den Rechtsradikalismus mit dem Sexismus. Hier kommt der Feminismus ins Spiel. Als soziale Bewegung unserer Zeit sind wir im Feminismus einerseits in der Verantwortung uns mit all jenen zu solidarisieren, die Diskriminierungen ausgesetzt sind und uns andererseits gegen sexistische Denkmuster zu wehren. Der Traum des Feminismus von freien und selbstbestimmten Geschlechtern in einer toleranten Gesellschaft ist mit rechtem Denken unvereinbar. Für diesen Traum gilt es einzustehen – heute und morgen mehr als gestern.

 

Im Gedenken, in Besorgnis.

Für mehr Feminismus in Deutschland.