Gedanken zum Liberalismus

Die Welt ist kompliziert, sehr kompliziert. Bereits heute gibt es mehr, als man glaubt – und täglich kommen neue unglaublich nützliche und unfassbar sinnlose Entdeckungen und Erfindungen dazu. Konnten noch vor einigen hundert Jahren einzelne Menschen alles Wissen der Welt erlernen, ist es heute schon schwer genug in einzelnen Fachgebieten auf dem Laufenden zu bleiben.

Auch gesellschaftlich, politisch und kulturell entwickelt sich alles sehr rasant und zu allem Überfluss sind wir dank einiger der vielen tollen neuen Techniken theoretisch alle in der Lage, jede dieser Entwicklung kennen zu lernen – was die Welt aber nur noch rasanter erscheinen lässt.

Man wird ganz irre davon. Man spricht in diesem Zusammenhang häufig auch von “dieser schnelllebigen Zeit”, in der es “sowas” (steht meistens für irgendwelche Möbel, Autos, nette Menschen, pipapo) wie früher ja gar nicht mehr gibt und so weiter und so fort.

Wahrscheinlich sind solche Äußerungen häufig übertrieben und verklären die Vergangenheit. Aber diese Zeit überfordert uns alle tatsächlich ein wenig. Wir verlieren den Überblick – und zwar in allen Bereichen des Lebens.

Was aber tun Menschen, die den Überblick verlieren?

Na klar, sie fangen an zu ordnen. “Schubladendenken” gehört für uns alle, ob uns das gefällt oder nicht, zum Alltag. Ich zum Beispiel merk das, wenns im Fernsehen oder sonstwo um einen dieser Casting-PopSuperstars geht. Die kommen bei mir alle in die selbe Schublade, und zwar unfairerweise in eine, deren Inhalt ich sofort wieder vergesse. Ich bin mir zwar sicher, der einen oder anderen womöglich interessanten Persönlichkeit damit vielleicht doch unrecht zu tun – aber es interessiert mich halt nicht weiter.

Auf diese Weise kann man wahrscheinlich die ganze Welt durchschubladisieren. Manches ist in den oberen fächern, wo man öfter mal ran geht, manches so weit unten, dass man nur eine verschwommene Vorstellung hat, was der Inhalt ist.

Man umgeht so ausführliche, detaillierte Vergleiche, sucht lieber nach Gemeinsamkeiten, statt nach Unterschieden – damit sich alles dem eigenen Kategoriensystem unterordnen kann.

Das Spart anstrengendes Differenzieren und lässt die Welt weniger kompliziert erscheinen. Man gaukelt sich vor, eine ganze Menge zu wissen – dabei überträgt man nur wirr irgendwelche Zuordnungen, ohne deren Wahrheitsgehalt genau prüfen zu können oder zu wollen. Ist ja auch bequem und man kommt auch prima damit zurecht.

Ganz bissig könnte ich auch behaupten, dass Aussagen wie “Die Post ist doch super und braucht gar keine Konkurrenz” zumindest von einigen Zeitgenossen aus genau diesen Motiven getätigt werden. So nach dem Motto “Soll ich denn beim Briefeschreiben auch noch die Preise vergleichen? Ohne mich!”

Man vereinfacht, ebnet ein, ordnet und verflacht die Welt so gut es geht, bis man sie wieder einigermaßen überblicken kann.

Solange das nur in den Köpfen passiert, ist das nichts weiter als eine natürliche Reaktion. Der Versuch, unwichtig erscheinende Details auszublenden eben. Eigentlich ein bewährtes Erfolgsrezept unseres Verstandes, der ansonsten völlig überladen wäre, ohne seine selbstgebastelten inneren Scheuklappen.

Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist das Unvermögen dieser Ausfilterung ein Ausdruck für Autismus – insofern ist es wirklich zu begrüßen, dass die meisten Menschen über diese Schubladenfähgigkeit verfügen.

Es ist also im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, sich die Welt ein bisschen einfacher zu machen, als sie ist. Kritisch wird es allerdings in dem Moment, wo man anderen versucht seine eigenen Scheuklappen aufzusetzen, Anderen vorschreiben zu wollen, was wichtig ist und worauf es ankommt und worauf nicht.

Denn in dem Augenblick versucht man, andere einzuschränken.

Manche nennen das gerne “Chancengleichheit schaffen”: Weil die einen bestimmte Dinge ausblenden, um nicht den Überblick zu verlieren, könnten diese Leute durch andere möglicherweise benachteiligt werden, wenn sie andere Prioriritäten setzen. Als Lösung wird dann einfach für engere Grenzen plädiert, innerhalb der Handlungsfreiheit besteht. Diesen Bereich überblickt dann jeder, keiner kann zum Beispiel deshalb aus der Reihe tanzen, weil er von Natur aus etwas heller ist und womöglich mehr überblicken kann. Zudem lässt sich mit diesem Modell auch einiges an Ideologie durchsetzen, denn die Grenzen müssen ja so oder so gesetzt werden – also warum nicht ausgewählte, mehrheitlich unbeliebte Verhaltensweisen oder Konsumgewohnheiten (Marihuana, „Killerspiele“, Genfood, zucker- oder fettreiche Nahrungsmittel, große Autos) außerhalb der Grenze lassen?

Dieser Ansatz von Chancengleichheit engt die Möglichkeiten der Menschen mitunter soweit ein, bis wirklich nahezu alles gleich ist, alles flach. Das kann in letzter Konsequenz zum Beispiel zu der Vorstellung führen, dass man ja mit einer einzigen Sorte Auto supi klar kommt, wozu brauchen wir einen zweiten “Trabant”? Als das ZDF eingeführt werden sollte und noch später die privaten Fernsehsender wurde ähnlich argumentiert: Was bringt soviel Fernsehen, wenn das sowieso niemand mehr gucken kann?

Solche Aussagen könnte man auch als Angst, etwas zu verpassen, interpretieren – wenn man böse wär. Dann wäre es wieder die selbe Angst, dass ein anderer etwas kriegt, das man selbst aus irgendwelchen Gründen nicht bekommt – zum Beispiel weil man andere Prioritäten setzt.

Nun hat eine weitgehend eingeengte Sicht der Dinge auf jeden Fall ihre Vorteile. Wer eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten hat, der kann sich im Prinzip nicht verlaufen. Zumindest wäre es nicht seine Schuld. Alles hat seinen Platz, alles seine felsenfesten Regeln. Hält er sich an sie, kann er keine Fehler begehen, die er selbst sich oder jemand anderee ihm vorwerfen könnte. Das gibt Orientierung, beantwortet jede Frage nach der Zukunft mit einer überschaubaren Zahl von Alternativen. Solange das alles funktioniert, diejenigen, die die Vorgaben machen ihre Sache gut machen und nichts unerwartetes geschieht, wird die breite Masse der Menschen ein solches Gesellschaftsverständnis gut finden und sich darin wohl fühlen. Der zwangsläufig entweder durch rahmende Gesetze oder strenge gesellschaftliche Konventionen auftretende Freiheitsverlust wird von Menschen, denen sonst nichts fehlt, in aller Regel ja auch stillschweigend akzeptiert.

Die Probleme fangen an, wenn sich ein einmal eingeschlagener Kurs irgendwann als katastrophal falsch herausstellt. Oder wenn eine andere Gesellschaft, ein anderer Staat sich an andere Regeln hält, die offenbar viel besser funktionieren. Oder auch wenn eine Gesellschaft mit freieren Regeln dadurch auf allen Gebieten etwas besser vorankommt, weil sie keine Denkverbote kennt. Wenn so etwas geschieht, dann werden die Menschen unruhig und stellen womöglich die geltende Ordnung in Frage.

Mögliche Auswege können dann Abschottung oder Unterdrückung sein, vielleicht auch Reformen und Kurswechsel. Es mag anstrengend und unbequem sein aber man kann solche Krisen durchaus in den Griff bekommen.

Aber spätestens an einem solchen historischen Punkt sollte die Frage gestellt werden, ob es überhaupt so sinnvoll war, die Welt irgendwann mal künstlich eingeebnet zu haben und diese Flachheit zum Maßstab für die gesamte Gesellschaft zu erheben und das Denken weitgehend einer mehr oder weniger exklusiven Klasse von Entscheidern zu überlassen..

Das ist dann das, was zumindest ich den Kern des Liberalismus nenne. Liberalismus bedeutet für mich in erster Linie, die Summe der Möglichkeiten jedes Einzelnen, bestimmte Dinge tun oder lassen zu können, zu maximieren.

Er bildet damit einen absoluten Gegenentwurf zur Scheuklappengesellschaft, wie ich sie oben beschrieben habe. Ein Liberaler lässt es zu, dass andere Leute aus der Reihe tanzen. Er nimmt es in Kauf, dass er wegen zu vieler Sender etwas im Fernsehen verpasst oder dass er aufgrund einer zu großen Auswahl an Joghurts im Supermarkt Probleme hat, sich zu entscheiden. Denn er sieht diese Probleme als pures Luxusproblem und als Preis dafür, dass es keine Denkverbote gibt und die gesetzlichen und gesellschaftlichen Grenzen zwar so eng wie nötig, aber so weit wie irgendmöglich gesteckt werden. Der Liberale hat auch kein Problem damit, anderen Erfolge zu gönnen, die sie aufgrund ihres aus-der-Reihe-tanzens, aufgrund ihres alternativen Denkens, aufgrund ihrer unkonventionellen Handlungsweise erzielen.

Er lebt nach der Maxime “Leben und Leben lassen”, hält es für überflüssig andere zu ihrem Glück oder ihrer Gesundheit zwingen zu müssen. Er ist für einen freien Markt, hält die These “der Markt regelt alles” allerdings für grundsätzlich irreführend: Nicht der Markt, sondern seine Teilnehmer bestimmen seiner Meinung nach maßgeblich, was in der Welt passiert – und das sind für ihn im Endeffekt demnächst sieben Milliarden Menschen, plus weiterer Milliarden von Unternehmern und Unternehmen.

Für einen Liberalen sind wirklich alle Menschen gleich, weshalb er undurchdringbare Grenzen, die nicht dazu dienen, die Freiheit des Einzelnen zu bewahren, für Unrecht hält.

Chancengleichheit bedeutet für ihn im Gegensatz zur Scheuklappenfraktion keine Verknappung von Möglichkeiten, sondern den Schutz der Freiheit der Möglichkeiten. Wenn es nach ihm geht, sollten Staat und Gesellschaft im Zweifel keine Beschränkungen verhängen, sondern nur dort Einfluss nehmen, wo es unbedingt nötig ist um die Freiheit des Einzelnen zu schützen.

Der größte Feind eines solchen Liberalismus ist er selbst. Seine bedingungslose Toleranz lässt zu, dass jene, die ihn ablehnen, mächtig genug werden können, um ein unter Umständen sehr enges Scheuklappensystem zu installieren. Das wiederum sieht eine geordnete Rückkehr in eine freie Gesellschaft im Normalfall nicht vor. Denn das würde ja von vornherein alles in Frage stellen – fatal für ein Modell, dass vor allem vom Glauben an seine Unfehlbarkeit lebt.

Das größte Problem des Liberalismus ist, dass der Mensch tendenziell faul ist und im Zweifel ungern selbst denkt, wenn es sich irgendwie vermeiiden lässt. Das führt dazu, dass Mancher verschiedene Verantwortungen zu oft allzuleicht an höhere Instanzen (zum Beispiel Politikern oder sogar Gott) weiterreicht und verlagert.

Gerade dieser Zusammenhang ist wahrscheinlich eine wesentliche Ursache für die jüngsten Entwicklungen zum Beispiel beim Nichtraucherschutz: Ich kenne Raucher, die die Verbotspolitik auch deswegen begrüßen, weil sie hoffen dank ihr besser mit dem Rauchen aufhören zu können, was natürlich wirklich nichts weiter als eine freiwillige Verlagerung von Verantwortung nach oben ist, die auf Kosten der Freiheit Anderer geht.

Wer für eine liberale Gesellschaft eintreten will, der sollte diese Überlegungen im Hinterkopf behalten. Der Wunsch nach Einheitlichkeit und Einfachheit und die Angst vor wichtigen Entscheidungen – alles urmenschliche Eigenschaften, von denen wohl niemand völlig frei sein dürfte – sind die Angriffsflächen für Populisten, Verführer und Mitschnacker, von denen viele im politischen Alltag auch in Deutschland mit hehren und ehrlichen Motiven antreten mögen, deren Ansinnen aber im Endeffekt auf eine Machtverlagerung nach oben und somit einer Beschneidung der Freiheit des Einzelnen hinwirkt.